B. Meier: 1291. Geschichte eines Jahres

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Titel
1291. Geschichte eines Jahres.


Autor(en)
Meier, Bruno
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
198 S.
von
Rainer Hugener, Nacherschliessung und Digitalisierung, Staatsarchiv des Kantons Zürich

Dass Wilhelm Tell ins Reich der Mythen gehört, ist mittlerweile auch in den abgelegensten Bergtälern bekannt. Schwieriger verhält es sich mit Rütlischwur und Bundesbrief, die im volkstümlichen Bewusstsein der Schweiz untrennbar miteinander verschmolzen sind, obwohl es sich eigentlich um zwei völlig unterschiedliche Traditionen handelt: Schon mittelalterliche Chronisten berichteten von einer nächtlichen Verschwörung der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden auf dem Rütli. Im 16. Jahrhundert datierte Aegidius Tschudi diese auf den 8. November 1307. Der sogenannte Bundesbrief wurde hingegen erst im 18. Jahrhundert wiederentdeckt und ab dem 19. Jahrhundert als Gründungsdokument der Eidgenossenschaft betrachtet. Das auf Anfang August 1291 datierte Dokument kam gerade recht, als die Schweiz 1891 das Bedürfnis verspürte, sich selbst mit einem Nationalfeiertag zu zelebrieren. Bis der 1. August landesweit als gesetzlich geregelter Feiertag eingeführt wurde, dauerte es zwar noch geraume Zeit. Doch bei den alljährlichen Feierlichkeiten in den Gemeinden mit Ansprachen, Feuerwerk und Höhenfeuern setzte sich schnell die Vorstellung durch, die Schweiz sei am 1. August 1291 auf dem Rütli gegründet worden.

Es ist daher sehr zu begrüssen, dass der Historiker und Verleger Bruno Meier den Versuch unternimmt, zu erklären, was 1291 wirklich passiert ist. Ein Versuch im besten Sinn des Wortes, denn das Ergebnis liest sich wie ein literarischer Essay – nicht nur wegen seiner angenehmen Kürze und seiner lockeren formalen Gestaltung mit Flattersatz in grossen Lettern. Ähnlich wie Günther Grass in «Mein Jahrhundert» (1999) für jedes Jahr des 20. Jahrhunderts eine Geschichte erzählt, schreibt Meier für jeden Monat des Jahrs 1291 ein Kapitel, in denen er jeweils einen anderen Fokus wählt. Folgt man im Januar zunächst König Rudolf von Habsburg, so schwenkt der Blick im Februar nach Baden, um im März auf den Gotthardpass und im April auf die Stadt Luzern zu fokussieren. Als weitere Schauplätze folgen Murten, Strassburg, Speyer, Payerne, Kerzers, Rapperswil und Wil.

Allein schon diese Ortswahl macht deutlich, dass sich die Erzählung bei Weitem nicht auf die Ereignisse in den «Urkantonen» beschränkt: Diese würden aufgrund des dürftigen Quellenmaterials kaum genügend Stoff für ein ganzes Buch liefern – schon allein deswegen eigneten sie sich auch so gut als Projektionsfläche (S. 171–176). Vielmehr zeigt Meier auf, wie intensiv das Gebiet der heutigen Schweiz mit dem europäischen Umland vernetzt war. Was die Habsburger und ihre Gegner in Österreich, Ungarn, Italien oder England entschieden, hatte Auswirkungen bis nach Zürich, Bern und Luzern. Zumindest am Rand wird ausserdem erwähnt, dass 1291 das Ende der Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten bedeutete, wobei mit Burkhard von Schwanden als Hochmeister des Deutschordens auch ein Adliger aus der Region Bern eine etwas unrühmliche Rolle einnahm. Ebenfalls erwähnt wird, dass 1291 eine erste, allerdings erfolglose Expedition losgeschickt wurde, um Indien auf dem Seeweg zu erreichen und dass der Venezianer Marco Polo im gleichen Jahr die Rückreise von China nach Westen antrat und dabei nach eigenen Angaben als Kuppler für den mongolischen Khan auftrat. Trotz seiner helvetozentrischen Ausrichtung bietet das Buch also einen Ausblick weit über den Röstitellerrand hinaus.

Die Ereignisse des Jahres 1291 inszeniert Meier fast wie ein Schiller’sches Drama: Dem Text stellt er eine Liste der «Hauptpersonen» (S. 12–13) voran, die er in einem «Personenregister» im Anhang (S. 184–190) noch ausführlicher vorstellt. Gerahmt wird die Erzählung von einem «Prolog» (S. 17–23) und einem «Epilog» (S. 153–169). Im Zentrum der Handlung steht der greise König Rudolf von Habsburg, dessen Tod im Sommer 1291 zum Auslöser für eine Kette von Ereignissen wird, welche die politischen Verhältnisse in Europa nachhaltig verändern. Denn seinem Sohn Albrecht, den Rudolf geschickt als Thronfolger aufgebaut hat, stellt sich eine wachsende «anti-habsburgische Koalition» (S. 122) gegenüber. Dabei handelt es sich aber nicht um die freiheitsdurstigen Bauern aus der Innerschweiz, sondern vielmehr um adlige Konkurrenten wie die Grafen von Savoyen (S. 23, 78), welche die habsburgische Herrschaft im Westen bedrohen, während von Osten her der ungarische König Andreas nach Österreich einfällt (S. 96) und der steirische und tirolische Adel zu rebellieren beginnt (S. 127). Und wie bei jedem klassischen Drama gibt es auch hier einen Gegenspieler aus der eigenen Familie, nämlich den gleichnamigen Vetter von König Rudolf, seit 1274 Bischof von Konstanz und Vorstand des laufenburgischen Zweigs der Habsburger, der sich durch die aggressive Expansionspolitik der habsburgischen Hauptlinie zunehmend bedrängt sieht. Unter seiner Führung formiert sich im Gebiet zwischen Genfersee und Bodensee der Widerstand gegen Albrecht, dem sich die Reichsstädte Zürich und Bern sowie schliesslich Luzern, das erst 1291 habsburgisch geworden war, anschliessen. Es kommt zu einem zermürbenden Fehdekrieg in der Ostschweiz, bei dem habsburgische Truppen das Städtchen Wil zerstören und Zürich belagern (S. 154–158).

Diese unsichere, wechselvolle Zeit bot für die aufstrebenden Städte und Talschaften zwischen Alpenkamm und Rhein Gelegenheit, sich als neue Ordnungsmächte ins Spiel zu bringen – wobei man noch längst nicht von einer gemein-eidgenössischen, aber ebenso wenig von einer zürcherischen, schwyzerischen oder urnerischen Politik ausgehen darf. Vielmehr zeigt Meier schlüssig auf, dass es auch innerhalb der Orte einzelne Persönlichkeiten oder Clans wie die Mülner und Manesse in Zürich, die Stauffacher und Ab Iberg in Schwyz oder die Schüpfer und Fürst in Uri waren, welche Politik in ihrem Sinn betrieben, Allianzen schmiedeten und mehr oder weniger erfolgreich versuchten, ihre Gegner auszuschalten.

Um sich nicht nur gegen aussen, sondern auch gegeneinander abzusichern, wurden nun allerlei Bündnisse geschlossen. Während sich Bern mit Savoyen verbündete (S. 105–108), stellten sich die Talleute von Uri und Schwyz ebenso wie die Gräfin Elisabeth von Rapperswil in den Schutz der Stadt Zürich (S. 135–137). Gut möglich, dass im gleichen Zusammenhang auch ein Bündnis zwischen Uri, Schwyz und Unterwalden geschlossen wurde. Allerdings ist einiges unstimmig an der entsprechenden Urkunde von Anfang August 1291, so dass auch Meier nicht abschliessend zu beurteilen vermag, ob das eigentümliche Schriftstück wirklich echt ist (S. 108–113). Aber vielleicht ist dies auch gar nicht so wichtig, denn wie die Lektüre dieses Buchs zeigt, war die Zeit um 1291 ohnehin entscheidend für Entwicklungen, die nicht nur die nachmalige Eidgenossenschaft, sondern ganz Europa betrafen. Sie zeigt aber eben auch, dass solche Bündnisse charakteristisch waren für jene Zeit, ohne dass man jedes von ihnen gleich zur Magna Charta der Schweiz erhoben hätte.

Genau darin liegt Meiers Verdienst: Er befreit das Jahr 1291 von der teleologischen Optik der Staatsgründung und zeigt stattdessen auf, wie sich die komplexen mittelalterlichen Machtverhältnisse allmählich zu verschieben begannen. In diesem Sinn dient Meiers Buch dazu, die Thesen seines viel zu früh verstorbenen Lehrers Roger Sablonier zu popularisieren. Wie dessen letztes Werk «Gründungszeit ohne Eidgenossen» (2013) stellt sich auch für Meiers Buch das Problem, dass sein Thema durchaus ein breites Publikum anspricht – und dementsprechend zweifellos seinen Weg in die schweizerischen Bücherregale finden wird –, dass der Inhalt jedoch trotz der erzählerischen Finesse selbst für Kenner der Materie relativ komplex ausfällt.Wenn das Buch trotzdem dazu beiträgt, die Vorstellung von der Gründung der Schweiz im Jahr 1291 zu relativieren, ist sein Zweck erfüllt.

Zitierweise:
Rainer Hugener: Bruno Meier: 1291. Geschichte eines Jahres, Baden: Hier und Jetzt, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 319-321.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 319-321.

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